Zirkuselefanten pflegte man früher oft mit einem Fuss an einen Pflock anzuketten. Der Pflock war allerdings nichts weiter als ein kleines Stück Holz, das kaum ein paar Zentimeter tief in der Erde steckte. Man könnte sich denken, dass ein Tier wie ein Elefant, das solch eine Kraft hatte, einen Baum mitsamt der Wurzel auszureissen, sich eigentlich mit Leichtigkeit hätte befreien können. Warum tat er es nicht? Was hielt ihn zurück?
Der Zirkuselefant flieht nicht, weil er schon seit frühester Kindheit an einen solchen Pflock gekettet ist. Stell dir den wehrlosen kleinen Elefanten vor. Wie er zerrt und zieht und sich zu befreien versucht. Und trotz aller Anstrengung gelingt es ihm nicht. Stell dir vor, wie er erschöpft einschläft und es am nächsten Tag wieder probiert, und am nächsten Tag wieder, und am nächsten... Bis eines Tages, das Tier seine Ohnmacht akzeptiert und sich in sein Schicksal fügt.
Dieser mächtige Elefant flieht nicht, weil er glaubt, dass er es nicht kann. Zu tief hat sich das Gefühl der Ohnmacht von damals in sein Gedächtnis eingebrannt. Und er hat diese Erinnerung nie wieder hinterfragt.
Viele von uns machten in ihrer Kindheit die Erfahrung von Ohnmacht und spürten Fesseln und Pflöcke. Wir fühlten uns eingeschränkt durch die Erziehung, das Umfeld oder die Gesellschaft. Wir prägten damals Auffassungen wie: „Ich kann nicht...“, „Ich darf nicht... “ oder „Ich muss.....“. Einige dieser Glaubenssätze tragen wir bis heute in uns. Sie schränken uns ein und behindern uns in unserem Weiterkommen. Oft stimmen diese Auffassungen über uns selbst, unser Leben und die Welt nicht mehr. Wir hinterfragen sie aber oft nicht, auch weil sie teilweise unbewussst wirken.
Ungünstige Erfahrungen in der Vergangenheit können uns in unseren Möglichkeiten einschränken. Wenn wir die entsprechenden Glaubenssätze aufdecken und bewusst machen, können wir uns damit auseinandersetzten. Wir können dann schauen, wo diese Auffassungen herkommen, prüfen ob diese (noch) wahr sind und welche Auswirkungen sie in der Gegenwart haben. So können wir herausfinden, was es zur Befreiung braucht und hilfreichere Glaubenssätze finden. Dann wird es möglich, neue Erfahrungen zu machen, um uns so nach und nach von den Fesseln der Vergangenheit zu befreien und unser wahres Potiential zu entfalten.
Vielleicht findest du selbst heraus, welche negativen Glaubenssätze dich in deinen Möglichkeiten einschränken. Vielleicht brauchst du dazu die Hilfe einer anderen Person. Das kann ein guter Freund oder eine gute Freundin sein oder ein Familienmitglied. Jemand, der/die dich gut kennt. Oder du lässt dich dabei von einer Fachperson unterstüzten. Es lohnt sich!
Quelle: © Jorge Bucay 1999, Der angekettete Elefant, aus: Komm, ich erzähl dir eine Geschichte, S. Fischer Verlag
Der Zirkuselefant © 2022, Luia Moroge
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